18 Oktober, 2020
Beim Lesen von Texten wie diesem hier ist es zuerst wichtig in Betracht zu ziehen, wie unbedeutend ihr Einfluss ist, selbst im Vergleich zu den schwächsten Statements von der OSCE Minsk Group oder anderen internationalen Organisationen. Und deshalb sind das Ziel dieser Texte nicht ihre exakt messbaren Auswirkungen, sondern vielmehr das Verkünden von Prinzipien für die Gegenwart und die Zukunft, eine Positionierung von jenen Individuen und Gruppen, die in der Vergangenheit machtlos waren und sich jetzt in diesem Kampf nicht mehr zurücknehmen können.
Der Kampf richtet sich gegen Ungleichheit, Unterdrückung, bewaffnete Kämpfe die regelmäßig aus einer Logik von Nationalstaaten und imperialistischen Bestrebungen ausbrechen und gegen autoritäre Systeme die die Menschenwürde verletzen, unterdrücken und ignorieren.
Der derzeitige Kampf diesen Krieg zu stoppen, der das letzte Glied in einer Kette von bewaffneten Kämpfen und Pogromen zwischen Armenien und Aserbaidschan ist, und dafür zu sorgen dass es keine Kriege mehr geben wird, ist nicht nur Anti-Krieg. Er ist auch Teil einer antikolonialistischen, antikapitalistischen und antifaschistischen Bewegung. Leider fällt dieser Kampf in eine Zeit mit noch anderen Kriegen und einer tödlichen Pandemie.
Texte wie diesen hier zu schreiben impliziert auch eine Möglichkeit sich in gewisser Weise den aktuellen Geschehnissen zu entziehen und das große Ganze zu betrachten. Aber das aktuelle Massaker, das tausende von Menschen auf beiden Seiten betrifft, erlaubt uns keine Distanz zum Krieg.
Der Krieg begann am 27. September auf Kommando der aserbaidschanischen politischen Eliten und mit voller Unterstützung der türkischen Autoritäten. Dies ist aber nur die vorhersehbare Fortsetzung des Krieges, der 1994 eingefroren wurde (was aber keinen Frieden gebracht hatte) und Jahrzehnten von nutzlosen geheimen Verhandlungen. Es ist auch die Fortsetzung des langen Prozesses, der stattfand, weil die politischen Eliten von Aserbaidschan und Armenien wirtschaftliche Interessen, Chauvinismus und politische Zweckmäßigkeit über Menschenleben stellten. Die Isolation von Gesellschaften voneinander erzeugte ein Vakuum und die Entwurzelung der Vision einer friedlichen Koexistenz.
Wir müssen uns eingestehen, dass weder Sozialist*innen noch Liberale der xenophoben Sprache, die wesentliche Verhandlungen unmöglich machte, etwas entgegen zu setzen hatten. Kocharyans Unsinn über die genetische Inkompatibilität von Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen wurde präsentiert und von vielen als unbestreitbarer Fakt wahrgenommen.
Die zwei ehemaligen Imperien haben mit ihrem aggressiveren Vorgehen in der Region eine Grundlage für diesen Krieg geschaffen. Beide Diktatoren, die ihre Macht von den Menschen in Russland und der Türkei ergriffen haben, sprechen die gleiche Sprache, behalten die Landkarten von vergangenen Imperien aus unterschiedlichen Zeiten in ihren Köpfen um sie als Orientierung zu nutzen.
Aber waren Nikol Paschinjan und seine „Zivilvertrag“ Partei, die 2018 als Ergebnis der Massenbewegung „Velvet Revolution“ an die Macht kam, nicht auch durch die Jahrzehnte an Propaganda beeinflusst? Natürlich waren sie das. Ein lebhaftes Beispiel ist das Statement von Nikol Paschinjan: „Artsakh ist Armenien, Punkt.“ Wir glauben, dass durch grundlegende und transparente Verhandlungen, gegenseitige Zugeständnisse und einen Verhandlungsprozess der von den notwendigen Bemühungen um Gerechtigkeit und bleibendem Frieden geleitet ist, diese Tragödie hätte verhindert werden können. Jedoch kennt die Geschichte keinen Konjunktiv und dreht sich nicht zurück zum Ausgangspunkt, aber lässt uns, wieder einmal, die Wahl zwischen Krieg und Frieden.
Der Krieg verändert Menschen auf katastrophale Weise, er verändert ihre Wahrnehmung und das Gespräch über Frieden.
Im Krieg wird ein neuer Diskurs geschaffen, der sich in Armenien und Aserbaidschan ausbreitet: „Wir werden diesen Krieg nicht der nächsten Generation überlassen“. Das ist es, was armenische und aserbaidschanische Freiwillige und Wehrpflichtige sagen.
Die Geschichtsbücher voller Mythen, das persönliche und kollektive Trauma, die immer von der „anderen“ ausgetragene Provokationen in den Medien und die Perspektive auf die Ereignisse aus nationalstaatlicher Perspektive drängen dazu sich für den Pfad des Krieges, der Zerstörung und der Selbstzerstörung zu entscheiden.
Wir entscheiden uns bewusst für den Frieden.
Die Verantwortung, für die Opfer und Zerstörung, die der Krieg mit sich bringt, liegt bei denen die sich für den Krieg entscheiden. Jedoch müssen Antikriegsbewegungen, auf individueller oder kollektiver Ebene, eine Untersuchung der Kriegsverbrechen aller Beteiligten und die Bestrafung der Verantwortlichen fordern. Der erste Schritt dem Krieg entgegenzutreten ist, sich mit den geschehenen Grausamkeiten zu konfrontieren, sie zuzugeben und Verantwortung für sie zu übernehmen.
Durch den Einfluss der Propaganda-Medien, sind diese Gräueltaten zu einer neuen Form von Barbarei herangewachsen. Die Bloßstellung von toten und verwundeten Soldat*innen, Hinrichtungen von Kriegsgefangenen und das Plündern von Leichen, werden nicht länger nur auf dem Schlachtfeld gesehen, sie sind ein Produkt der Massenmedien. Die einfachen Leute, die gleichzeitig Informationen für die konsumorientierte Gesellschaft liefern, richten sich an „die Menschen“, „Gott“, „Freund*innen“, „Verwandte“ und „Urahnen“, von dehnen sie angeblich die glorreiche Mission vererbt bekommen haben, den heiligen Krieg weiter zu führen. Neben den militärischen Melodramen und erotisierten Darstellungen von jugendlichen Soldat*innen, sind die pornografischen Bilder der Kriegsverbrechen Teil der Realität. Wie eine verbotene Droge breitet sie sich von einer menschlichen Begegnung zur nächsten aus. Für jene im Hinterland, die nach Informationen über ihre Verwandten suchen, ist diese Droge — in staatlicher oder amateurhafter Verpackung — ein Mittel um die Apathie mit Panik und Euphorie hinauszuzögern. So werden Gewalt und Massenmorde normalisiert. Sie werden nach dem Krieg mit uns bleiben genauso wie nicht detonierte Bomben.
Wir waren nicht bereit zu glauben, dass diese besondere Form der Nekrophilie so schnell Teil der Nachrichtensendungen in beiden Ländern werden würde. Dies ist eine neue Sprache des Genozids, die beendet werden muss.
Einer der ersten Schritte, nach dem Krieg Frieden aufzubauen, ist die klare Anerkennung von den Rechten der zwei Volksgruppen (und genau hier liegt der Fehler, den die armenischen Autoritäten in den letzten zwei Jahren gemacht haben). Zusammen mit den Rechten auf Selbstbestimmung und Sicherheit der Nagorno Karabakh Armenier*innen, braucht es auch Rechte für die aserbaidschanischer Bevölkerung von Nagorno Karabakh und den umliegenden Gebieten, die im Krieg vertrieben wurden. Es ist wichtiger, dass diese Rechte in Armenien und in armenischen Diaspora anerkannt werden.
Dieser Weg wird uns erlauben, über die Wiederherstellung der Rechte von armenischen und aserbaidschanischen Geflüchteten aus Armenien, Aserbaidschan und den ehemaligen NKAO zu sprechen.
Selbst in den schwierigen Tagen des Krieges müssen wir uns erinnern, dass die Territorien auf der Landkarte das Zuhause von Menschen sind: Für viele Armenier*innen und Aserbaidschans ein verlorenes Zuhause.
Das Gespräch über die Wiederherstellung von Geflüchtetenrechten impliziert nicht, dass eine Gruppe wichtiger sei als die andere. Unabhängig von ihrer ethnischen Identität, ihrem Aufenthaltsland und ihrer Haltung zueinander, sind diese Menschen Opfer von Nationalismus und Krieg. Sie sind Geiseln eines ungelösten Konfliktes.
Jetzt, mitten im Krieg, ist es schwierig darüber zu sprechen, wie sich die Wiederherstellung der Rechte von Geflüchteten und die persönliche Sicherheit gleichzeitig umsetzen lassen, aber die Befürwortenden von Frieden und Gerechtigkeit müssen zugeben: Die Nichtbeachtung von verletzen Rechten, führt nur die Ungerechtigkeit fort und befeuert den gegenseitigen Hass.
Nach ihrer Besetzung wurden die anliegenden Gebiete der ehemaligen NKAO als Hebel, als Mittel in Verhandlungen benutzt, um die Anerkennung zu erreichen. Gebiete im Tausch gegen Status. Später wurden diese Gebiete dann, aus politischer Zweckmäßigkeit, von Eliten und Intellektuellen umdefiniert. Erst zu einer Sicherheitsgarantie (und das stärkste Argument um diesen Irrglauben zu widerlegen ist die derzeitige katastrophale Realität) und dann zu einem heiligen Land, für das Blut vergossen wurde.
Als ob Menschen starben für die Verewigung des Krieges.
Diese Veränderung des Diskurses war auch ein Ergebnis von kapitalistischer Aneignung. Welcher Teil der Menschen, die in diesen Gebieten leben, wohnt auf privatem Land und bleibt die Bedienung dafür? Werden die Quadratmeter an Land, die durch den Krieg von Aserbaidschan zurückgeholt werden, tatsächlich den Menschen zurückgegeben, die wegen des ersten Krieges fliehen mussten? Oder wird es nur eine neue Zuflucht in den Händen der alten Besitzer*innen?
Wir alle haben gegen das Kapital und die undurchschaubare bourgeoise Ideologie, die dieses heilig spricht, verloren. Während das Land den Kapitalist*innen gehört, haben die Ideolog*innen, die vom Kapital profitieren, eine Illusion erschaffen, in der das Land der Nation gehört, sei es Armenier*innen oder Aserbaidschaner*innen. Das Land hat Nationalität, eine Grenze, einen Zaun dazugewonnen und die Eigentumsrecht wurde geheiligt.
Wir haben die Diskreditierung von Klassenzusammenhalt, Solidarität und Freundschaft zugelassen und blieben in der belagerten Festung der nationaler Identität. Aber je höher die Mauern der armenischen und aserbaidschanischen Festungen wuchsen, desto enger wurde der Schlußring der uns verbindet. Dieser Jahrzehnte lange Konflikt hat uns alles genommen. Er hat die unzerstörbaren Praktiken von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Ungleichheit legitimiert, unsere Würde, Vorstellungskraft und Träume verstümmelt. Werden wir jetzt wirklich aufgeben gegen das Diktat des kapitalistischen Systems, uns zurückziehen, unsere Rechte für unser Leben geben? Sollen wir einfach hinnehmen, auch dieses Mal wieder, auf beiden Seiten des Leides und Enttäuschung zurückgelassen zu werden, mit dem Gift von Feindschaft und Kummer als Entschädigung?
Die Revolutionierung von Gesellschaften, der Auftrag der Wiederherstellung von Rechten durch Frieden und der Kampf der dafür notwendig ist, sollte das Ziel aller progressiven und auch spezifisch anti-autoritären, antikapitalistischen, antikolonialistischen, feministischen und umweltpolitischen Gruppen werden. Wenn es keinen anderen Weg gibt, sollten genau diese Gruppen die Message von Frieden sichern und harmonischer Entwicklung auf sich nehmen.
Etwas weitgreifender betrachtet, kann das Problem der Instrumentalisierung nationaler Problematiken, von den vorgehenden und jetzigen Supermächten, genau durch die Menschen der Region gelöst werden, indem sie ausländische imperialistische Kräfte dabei stoppen Menschen als Marionetten zu benutzen.
Wir erkennen die geschichtliche Notwendigkeit die Staatsgrenzen zu übersteigen, eine Umgebung zu erschaffen, die gerecht, frei und egalitär ist, auf Solidarität aufgebaut ist und die harmonische Entwicklung einer Gesellschaft ermöglicht. Jeder individuelle Kampf, der aus dieser Notwendigkeit heraus geführt wird, ist Teil eines globalen Kampfes, aber für lokale, kurzzeitige Aktionen braucht es eine klare Agenda. Wir schlagen diese Aktionen auch unseren Genoss*innen aus Aserbaidschan und anderen Ländern vor:
- Waffenstillstand jetzt!
- Entwicklung eines Diskurses der Krieg ausschließt, das heißt Regierungen, die keinen Frieden versichern, sind undemokratisch und unmenschlich, und verlieren deshalb ihre Legitimation.
- Unterstützung für die Menschen, deren Rechte in der generellen Mobilisierung verletzt wurden
- Die Kriegsverbrechen beider Seiten aussprechen und verurteilen
- Einen Diskurs entwickeln, der die notwendige Wiederherstellung der Menschenrechte über Forderungen in Verbindung mit Grenzen stellt
- Aufmerksamkeit und Verständnis schaffen für Solidarität, gemeinsame Interessen und Herausforderungen, auf individueller, organisatorischer und gemeinschaftlicher Ebene, durch die Anwendung aller Methoden von Mensch-zu-Mensch-Diplomatie.
- Entmilitarisierung der Region und zu aller erst von Aserbaidschan und Armenien: offensive Waffen sollten verhältnismäßig und konsequent auf den Müllhaufen der Geschichte genauso wie auf reales Müllhaufen entsorgt werden
Lang lebe der Frieden und die Revolution von Morgen!
Aram Amirbekyan
Hrayr Savzyan
Gayane Ayvazyan
Anton Ivchenko
Davit Selimyan
Milena Abrahamyan
George Qehyan
Arevik Martirosyan
MZ
Gevorg Mnacakanyan
Haik Petrosyan
Alla Parunova
Qamee Abrahamyan
Stella Chandiryan
Armine Zakaryan
Hasmik Geghamyan
Sona Dilanyan
LS
Lilith Hakobyan
Ani Tuniants
Marusya Sepkhanyan
Milena Adamyan
Ani Tadevosyan
arthur sharoyan
VS
Rubina Shahnazaryan
Ran Vosseyan
Tamar Shirinyan
Eliza Mkhitaryan
Kovalova Oleksandra
Julia Kislev
Yulia Adelkhanova
Rovshana Orujova
Leon Rafi Aslanov
Gohar Shahnazaryan
Christina Soloyan
Anna Abramyan-Bagramyan
Sati Sargsyan
A Artoonian
LWB
Anahid Yahjian
Antti Rautiainen
Melanie Goushian
Anna Omelchenko Gharibyan
Arthur Avakov
Rezi
Alexey Sergienko
Vano Chelovekov
Tamta Tatarashvili
Ruslan Usifov Wizzacaveats-Zade
Ani Revazyan
Dallakyan Olgert
Tatiana Rita Yusuf
VS
Arthur Minasyan (joining with reservations)
Zoe Clausen
Avetik Karagulyan
dm
Olga Chernyshova
Inna Dimitryan
Shyngys Toleubaev
Alexander L.
Vasiliy Maksimov
E. V.
Zhasmina Gyozalyan
Flora Ghazaryan
Hasan Kasumov
Anna Harutyunyan
Ani Revazyan
Artak Adam Arakelyan
Kristine Shahoyan
Mkhitaryan Ruben
Razmik
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